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Die Unendlichkeit zieht uns an wie ein Flutlicht in der Nacht – und macht uns blind für die Ausschweifungen, die sie in der Endlichkeit anrichten kann.
Meditationen aus Bifrost Eyrie,
Texte des Buddhislam
Vier Monate nach der Lawinenkatastrophe statteten Abulurd Harkonnen und seine Frau der Bergstadt einen öffentlichkeitswirksamen Besuch ab. Die Tragödie von Bifrost Eyrie hatte ganz Lankiveil einen Schock versetzt und das Volk enger zusammengeschmiedet.
Emmi und er hatten ihre unerschütterliche Treue und gemeinsame Stärke demonstriert. Abulurd hatte es seit Jahren vorgezogen, als Herrscher eher hinter den Kulissen zu wirken und nicht einmal den Titel zu führen, auf den er Anspruch hatte. Er wollte, dass sich das Volk von Lankiveil selbst verwaltete und sich freiwillig gegenseitige Hilfestellung leistete. Er betrachtete die Dorfbewohner, Jäger und Fischer als große Familie mit gemeinsamen Interessen.
Dann hatte Emmi ihren Ehemann mit stiller Zuversicht überzeugt, dass eine öffentliche Pilgerreise als amtierender planetarischer Gouverneur die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Not der Bergfestung lenken würde. Der Bürgermeister Onir Rautha-Rabban würde sie mit offenen Armen empfangen.
Abulurd und Emmi waren in einem großen Transporter unterwegs, begleitet von Dienern und Angestellten, von denen viele kaum über die Walfangdörfer hinausgekommen waren. Die drei Ornithopter flogen langsam über Gletscher und schneebedeckte Berge hinweg und näherten sich den zerklüfteten Tälern, in denen sich die Klosterstadt versteckte.
Die Sonne spiegelte sich glitzernd im Schnee und an den Eiskristallen, die die Berggipfel überzuckerten, und ließen die Welt unberührt und friedlich erscheinen. Als ewiger Optimist hoffte Abulurd, dass die Bewohner von Bifrost jetzt in eine noch bessere Zukunft blicken konnten. Er hatte eine Rede geschrieben, deren Grundaussage auf diese Botschaft hinauslief, obwohl er nicht viel Erfahrung mit Ansprachen vor großen Mengen hatte. Trotzdem freute er sich darauf. Er hatte seine Rede bereits zweimal mit Emmi als Publikum geübt.
Das Gefolge des Gouverneurs landete auf einem Plateau vor den steilen Klippen von Bifrost Eyrie, dann stiegen Abulurd und seine Leute aus. Emmi ging an der Seite ihres Gatten und sah in ihrem schweren blauen Umhang sehr vornehm aus. Er nahm ihren Arm.
Der Wiederaufbau war erstaunlich weit fortgeschritten. Die Arbeiter hatten den Schneekeil abgetragen und die verschütteten Gebäude wieder freigelegt. Da der größte Teil der wunderbaren Architektur zerstört oder schwer beschädigt war, hatte man sie mit einem Netz aus Gerüsten überzogen. Die besten Steinmetze von Lankiveil arbeiteten rund um die Uhr und fügten Stein um Stein aufeinander, um der Stadt ihre ehemalige Pracht zurückzugeben. Natürlich würde Bifrost Eyrie nie wieder genauso wie früher sein ... Aber vielleicht wurde die Stadt noch schöner als zuvor, wie ein Phoenix, der sich aus dem Schnee erhob.
Der stämmige Onir Rautha-Rabban trat vor, um sie zu begrüßen. Er trug ein goldenes Gewand, das mit schwarzem Walpelz besetzt war. Emmis Vater hatte sich nach der Katastrophe den vollen grauen Bart abrasiert. Jedes Mal, wenn er in einen Spiegel blickte, wollte er daran erinnert werden, wie viel seine Bergstadt verloren hatte. Diesmal wirkte sein breites, kantiges Gesicht zufriedener als bei ihrer letzten Begegnung, und in seinen Augen strahlte wieder ein Feuer, das Hoffnung machte.
Zur Ankunft des planetarischen Gouverneurs stiegen die Arbeiter von den Gerüsten und folgten den festgetretenen Pfaden durch das Schneefeld, die zum großen Platz der Stadt führten. Nach der Fertigstellung würden hohe Gebäude wie Götter auf den Platz herabschauen, doch selbst die unfertigen Bauten wirkten beeindruckend.
Seit der Lawine hatte es das Wetter gut mit ihnen gemeint, aber in ein bis zwei Monaten würde der Einbruch des nächsten Winters sie zwingen, die Arbeiten einzustellen und sich ein halbes Jahr lang hinter dicken Steinmauern zu verkriechen. In dieser Saison würde Bifrost Eyrie nicht mehr fertig werden. Angesichts des Ausmaßes der Bauarbeiten wurde es vielleicht niemals fertig. Aber die Menschen würden stets weiterbauen und ihr in Stein gehauenes Gebet an den Himmel von Lankiveil vervollkommnen.
Als sich die Menge versammelt hatte, hob Abulurd die Hände und rief sich seine Rede ins Gedächtnis. Dann verschwanden plötzlich alle Worte aus seinem Geist und ließen nur Nervosität zurück. Emmi, die wie eine Königin an seiner Seite stand, berührte seinen Arm, um ihm Zuversicht zu geben. Sie flüsterte ihm den ersten Satz seiner Rede zu, damit er sich erinnerte, was er sagen wollte.
»Meine Freunde«, rief er laut und grinste verlegen, »die Lehren des Buddhislam halten uns zur Wohltätigkeit, harten Arbeit und Unterstützung der Bedürftigen an. Es gibt kein besseres Beispiel für eine Zusammenarbeit, die von Herzen kommt, als den freiwilligen Aufbau, den Sie hier unternehmen ...«
Ein Raunen ging durch die Menge, und die Menschen zeigten bedeutungsvoll zum Himmel hinauf. Abulurds Verunsicherung wuchs wieder, bis er sich umblickte. In diesem Moment schrie Emmi auf.
Eine Formation schwarzer Schiffe war am azurblauen Himmel erschienen. Es waren Kampfschiffe mit dem Greifen des Hauses Harkonnen, die genau auf die Berge zuhielten. Abulurd legte die Stirn in Falten, doch eher vor Verwirrung als vor Schreck. Er sah seine Frau an. »Was hat das zu bedeuten, Emmi? Ich habe keine Schiffe gerufen.« Aber sie hatte auch keine bessere Erklärung als er.
Sieben Kampfjäger näherten sich mit brüllenden Triebwerken im Tiefflug. Abulurd machte sich Sorgen, dass der Lärm weitere Lawinen auslösen könnte – dann fuhren die Schiffe ihre Waffen aus. Die Bewohner der Bergfestung gerieten in Bewegung, sie schrien und liefen verwirrt hin und her. Einige suchten offensichtlich Deckung. Abulurd verstand immer noch nicht, was geschah.
Drei der schlanken Schiffe wurden langsamer und schwebten über dem Platz, wo sich die Menschen versammelt hatten. Die Lasguns waren auf die Menge gerichtet.
Abulurd winkte, um die Piloten auf sich aufmerksam zu machen. »Was machen Sie da? Hier muss ein Missverständnis vorliegen!«
Emmi drängte ihm vom Podium, wo er ein ausgezeichnetes Ziel abgab. »Das ist kein Missverständnis.«
Die Dorfbewohner flüchteten sich in den Schutz der Häuser, als die Schiffe zur Landung ansetzten. Abulurd hatte den Eindruck, dass die Piloten keine Rücksicht auf die Zuschauer genommen hätten, wenn der Platz nicht so schnell geräumt worden wäre. »Bleib hier«, sagte er zu Emmi und marschierte dann zu den drei Schiffen hinüber, um eine Erklärung zu verlangen.
Die vier übrigen Schiffe flogen eine Runde über der Stadt und kehrten dann zurück. Mit lautem Knistern stachen heiße Lasgun-Strahlen durch die Luft und rissen die Gerüste von den Steingebäuden.
»Aufhören!«, rief Abulurd in den Himmel, die Fäuste geballt, doch keiner der Soldaten konnte ihn hören. Es waren Harkonnen-Truppen, die seiner Familie dienten, aber nun griffen sie seine Leute an, die Bürger von Lankiveil. »Aufhören!«, wiederholte er, während er von den Schockwellen zurückgetrieben wurde.
Emmi packte ihn und zerrte ihn zur Seite, als eins der Schiffe im Tiefflug über den Platz sauste und einen heftigen heißen Sturm hinter sich her zog.
Die nächsten Lasgun-Salven zielten mitten in die wimmelnden Massen. Jeder Schuss mähte Dutzende Menschen nieder.
Blauweiße Eisblöcke lösten sich von den Gletschern und stürzten in dichten Dampfwolken herab. Halb fertiggestellte Gebäude brachen zusammen, als sie durch Lasgun-Strahlen zerstückelt wurden.
Die vier Angriffsschiffe setzten zu einem dritten Anflug an, während die gelandeten Schiffe am Boden blieben und die Triebwerke herunterfuhren. Zischend öffneten sich die Türen, und Harkonnen-Truppen quollen heraus. Die Männer trugen dunkelblaue Einsatzuniformen, die gegen die Kälte isoliert waren.
»Ich bin Abulurd Harkonnen, und ich befehle Ihnen, den Angriff einzustellen!« Die Soldaten warfen ihm nur einen flüchtigen Blick zu und beachteten ihn nicht weiter.
Schließlich trat Glossu Rabban aus einem der Schiffe. Sein Gürtel war mit Waffen behangen und seine Brust mit militärischen Abzeichen bestückt. Mit seinem schwarzen Helm sah er aus wie ein Gladiator in einem antiken Kolosseum.
Als Onir Rautha-Rabban seinen Enkel erkannte, lief er mit flehend erhobenen Händen auf ihn zu. In seinem Gesicht standen Wut und Entsetzen. »Bitte aufhören! Glossu Rabban, warum tust du das?«
Auf der anderen Seite des Platzes zogen die Bodentruppen ihre Lasguns und eröffneten das Feuer auf die schreienden Menschen, die sich nirgendwohin flüchten konnten. Bevor der alte Bürgermeister Rabban auf der Landerampe erreichen konnte, hatten ihn Soldaten gepackt und zerrten ihn fort.
Wutentbrannt marschierte Abulurd zu Rabban. Harkonnen-Soldaten wollten ihm den Weg versperren, aber er donnerte sie an: »Weg da! Lassen Sie mich durch!«
Rabban blickte ihn mit metallisch kalten Augen von oben bis unten an. Seine dicken Lippen hatten sich über dem grobschlächtigen Kinn zu einem zufriedenen Strich auseinander gezogen. »Vater, dein Volk muss lernen, dass es viel schlimmere Dinge als Naturkatastrophen gibt.« Er hob das Kinn ein kleines Stückchen höher. »Wenn sie sich davor drücken wollen, ihren Zehnten zu entrichten, bekommen sie es mit einer unnatürlichen Katastrophe zu tun – mit mir.«
»Ruf sie zurück!«, rief Abulurd mit Befehlsstimme, obwohl er sich völlig machtlos fühlte. »Ich bin hier der Gouverneur, und dies ist mein Volk!«
Rabban bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Und sie brauchen unbedingt eine Lektion, damit sie verstehen, was von ihnen erwartet wird. Die Sache ist eigentlich gar nicht so kompliziert, aber du scheinst nicht in der Lage zu sein, es ihnen auf die richtige Weise nahe zu bringen.«
Soldaten hatten den sich wehrenden Onir Rabban vor einen tiefen Abgrund gezerrt. Als Emmi sah, was sie vorhatten, schrie sie. Abulurd fuhr herum und sah, dass sein Schwiegervater unmittelbar an der steilen, vereisten Klippe stand. In der Tiefe war nicht mehr als ein Wolkenmeer zu erkennen.
»Das kannst du nicht tun!«, sagte Abulurd entgeistert. »Dieser Mann ist das rechtmäßige Oberhaupt dieser Stadt. Und er ist dein Großvater.«
Lächelnd, aber ohne Emotion und ohne den Nachdruck eines Befehls flüsterte Rabban: »Wartet. Halt.« Die Soldaten konnten ihn unmöglich gehört haben. Außerdem hatten sie längst ihre Befehle.
Die Harkonnen-Wachen hielten den Bürgermeister an beiden Armen fest und hoben ihn wie einen Abfallsack, der in eine Müllgrube geworfen werden sollte. Emmis Vater schrie auf und strampelte verzweifelt. Mit Fassungslosigkeit und Entsetzen im Gesicht blickte er Abulurd an. Ihre Blicke trafen sich.
»Oh nein, bitte nicht«, flüsterte Rabban, während sich seine Lippen zu einem Grinsen verzogen.
Dann ließen die Soldaten den alten Mann los, der in der Tiefe verschwand.
»Ach, zu spät«, sagte Rabban mit einem Achselzucken.
Emmi fiel auf die Knie und würgte. Abulurd konnte sich nicht entscheiden, ob er zu ihr eilen und sie trösten oder sich auf seinen Sohn stürzen sollte; also blieb er wie gelähmt stehen.
Rabban klatschte in die pummeligen Hände und rief: »Genug jetzt! Angetreten!«
Laute Signaltöne kamen von den gelandeten Schiffen, worauf die Harkonnen-Truppen in perfekter militärischer Formation zurückmarschiert kamen. Hinter ihnen rafften sich die jammernden Überlebenden auf und eilten zu den Opfern hinüber, um nach Freunden oder geliebten Menschen zu suchen und ihnen zu helfen, falls es noch möglich war.
Von der Rampe des Flaggschiffs musterte Rabban seinen Vater. »Sei mir dankbar, dass ich bereit war, deine Drecksarbeit zu übernehmen. Diese Leute sind träge geworden, weil du sie viel zu weich angefasst hast.«
Die vier Kampfjäger flogen einen weiteren Angriff, der noch ein Gebäude in einer Wolke aus Staub einstürzen ließ. Dann drehten sie ab und fanden sich am Himmel wieder zu einer Formation zusammen.
»Wenn du mich noch einmal zum Durchgreifen zwingst, werde ich etwas mehr Kraft demonstrieren müssen – in deinem Namen, versteht sich.« Rabban kehrte ihm den Rücken zu und bestieg sein Flaggschiff.
Schockiert und verwirrt starrte Abulurd auf die Verwüstung, die Feuer, die grausam verkohlten Leichen. Er hörte einen lauter werdenden Klageschrei – bis er erkannte, dass er aus seiner eigenen Kehle kam.
Emmi war zur Felskante gewankt und stand schluchzend am Abgrund. Sie starrte in die bodenlose Tiefe, die ihren Vater verschluckt hatte.
Die letzten Harkonnen-Schiffe stiegen mit Suspensoren in den Himmel auf und hinterließen verbrannte Flecken auf dem großen Platz der erneut verwüsteten Bergstadt. Abulurd sank in untröstlicher Verzweiflung auf die Knie. In seinem Geist war nur hallende Fassungslosigkeit und schrille Qual, beherrscht vom selbstzufriedenen Gesichtsausdruck Glossu Rabbans.
»Wie konnte ich nur ein solches Monstrum in die Welt setzen?«, fragte er sich. Aber er wusste, dass er niemals eine Antwort auf diese Frage finden würde.